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Die Idee
von der
einen Welt


Ein Essay
zu den
Möglichkeiten
und Grenzen

von Noémi Kiss

Die Welt ist eng vernetzt, das merken wir seit geraumer Zeit. Doch woher stammt und wohin führt dieser heute schon fast banal klingende Gedanke von der Welt als Einheit mit vielen Vernetzungspunkten? Und inwieweit spielen Unterschiede zwischen Gesellschaften und Kulturen in dieser „One World“ noch eine Rolle?

Es ist nicht die lange, bereits über ein Jahr andauernde, die Grenzen des Ertragbaren strapazierende Zeit der Pandemie, die uns zeigt, dass es in der Welt globale Phänomene gibt. Dass wir für andere jederzeit erreichbar sind und dass die Welt eine Gesamtheit von Netzen und Knotenpunkten darstellt, in der wir selbst dann in greifbarer Nähe sein können, wenn wir dem anderen in Wirklichkeit nicht einmal begegnen – auch das ist keine Neuigkeit. „Das postmoderne Wissen“ des französischen Philosophen Jean-François Lyotard oder „Soziale Systeme“ des deutschen Soziologen Niklas Luhmann waren Werke, die schon Ende der Siebziger-, Anfang der Achtzigerjahre die Gesellschaft als grenzenlos und vielfach verbunden beschrieben haben. Ein Kerngedanke war, dass Informationsnetzwerken eine enorme Bedeutung in der Welt zukommt.

Dabei gab es damals noch den Kalten Krieg und durch Europa zog sich der Eiserne Vorhang. Zwischen der östlichen und westlichen Welt zeichnete sich scharf eine geografische Grenze ab. Das ist lange her. Heute denken wir bereits, dass solche geografischen Gegebenheiten für die globalen Netzwerke nicht mehr bestimmend sind.

„Die Idee von der einen Welt“ ist wie das Netz einer unsichtbaren Spinne, elastisch und unzerreißbar, den Alltag der Menschen immer stärker durchwebend und das Denken verändernd. Grenzen wären dabei weitgehend aufgelöst. Ein gutes Beispiel dafür ist die Berliner Initiative „A Soul for Europe“. Sie versteht sich als ein Netzwerk von Kulturschaffenden und will einen Dialog zwischen Ländern und Menschen, Städten, Künstlern sowie Politikern schaffen. Ihr allumspannendes Motto: „Culture is an Interdependent World“. Mich interessiert genau dieser Augenblick, in dem die sicht- und spürbaren geografischen Grenzen bedeutungslos werden: die Kraft und Magie; man könnte auch sagen, die positive Energie jenes Augenblicks, in dem das Netz Grenzen aufhebt.

Im Zusammenhang mit der Metapher „One World“ möchte ich ein persönliches Erlebnis erzählen – eine Episode aus der Zeit meines eigenen Heranwachsens, die mein Denken verändert hat. Ende der 1980er-Jahre war ich das erste Mal im Westen. Ich fuhr mit meiner Großmutter und meinem Großvater aus Ungarn nach Graz zu meinem Onkel. Wir überquerten die Grenze bei Kőszeg. Dort mussten wir viele Formulare ausfüllen, in der Schlange stehen, die Kontrolle nahm eine geraume Zeit in Anspruch. Die ganze Prozedur war demütigend. Zu jener Zeit war es sogar noch üblich, dass man uns, wenn wir nach Rumänien fuhren, an der Grenze desinfizierte. Damals war ich schon in Bulgarien, Jugoslawien, der DDR und der Tschechoslowakei gewesen. Aber diese Reise nach Österreich, das Passieren des Eisernen Vorhangs – mit den Wachhäusern und bewaffneten Soldaten – wurde zu einer meiner stärksten Kindheitserinnerungen.


Auch entlegene Gegenden im Kaukasus, die Kiss schon oft bereiste, profitieren von der weltweiten Vernetzung

im profil

Noémi Kiss, geboren 1974 in Gödöllö/Ungarn, ist eine ungarische Schriftstellerin, Kritikerin und Essayistin.

Ihre Texte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, auch ins Deutsche, darunter der Roman „Was geschah, während wir schliefen“ von 2008 und die Reisebetrachtungen „Schäbiges Schmuckkästchen. Reise in den Osten Europas“ von 2015. Zuletzt erschien von ihr die Novellensammlung „Balaton“.

Kiss lebt in Budapest und Wien und engagiert sich in der Initiative „A Soul for Europe“.

Auch entlegene Gegenden im Kaukasus, die Kiss schon oft bereiste, profitieren von der weltweiten Vernetzung

Die erfahrung der Reise war nicht deshalb so interessant, weil ich mit den Augen einer Jugendlichen sehen konnte, dass die Kirschen in Nachbars Garten tatsächlich süßer schmeckten. Auch nicht, weil ich deutlich die Unterschiede im Alltag zwischen Ost und West sehen konnte. Denn trotz der Verschiedenheit war natürlich das meiste sofort verständlich und bedurfte keiner besonderen Erklärung. Es gab ein Netz von Beziehungen, das in der Lage war, die beiden Welten ineinanderzuschieben. Kurz: Die Welten verstanden sich und sprachen dieselbe Sprache.

Es war etwas ganz anderes, was ich mir bewahrt habe. Etwas, dem ich zu Hause, in Budapest, nie zuvor begegnet war und was ich nicht einmal aus Erzählungen kannte. Die Grenze, das waren weniger der Zaun und die Wachtürme, der Geruch von Desinfektionsmittel oder die Anwesenheit von Soldaten – sondern die Vielzahl an Tabus, die wir in Ungarn empfanden. Und das größte Tabu war, dass es überhaupt soziale Unterschiede zwischen Ost und West gab.

Als mich mein Grazer Onkel eines Morgens fragte, ob ich vielleicht Lust hätte, für einen Tag nach Wien zu fahren, sagte ich sofort ja. Die Fahrt war lang, wir mussten mehrmals anhalten, aßen belegte Brote, tankten. Bei einem dieser Stopps wurden wir Augenzeugen eines sonderbaren Ereignisses. Nicht weit von der Straße, die zum Parkplatz führte, stand ein kleineres Haus. Lachen und Kreischen waren zu hören. Ich sah eine Gruppe, am helllichten Tag mit Drogen zugedröhnt oder betrunken. Autos kamen und fuhren. Ich erinnere mich stark an eine auffällig gekleidete Frau, die rauchend in der Gegend um den Parkplatz auf und ab ging und durch die Scheiben in die Autos blickte. Ihr Gesicht war ausgemergelt, ihr Haar blondiert, der Lippenstift auf dem Mund verschmiert. Als hätte sie vorher geweint, so war ihre Wimperntusche um die Augen herum verlaufen. Als wir losfahren wollten, sahen wir, dass sie an der Bordsteinkante zu Boden stürzte. Ich sagte meinem Onkel Bescheid. Ich dachte, wir würden ihr helfen, er machte den Motor aus, stieg aber nicht aus dem Wagen. Es vergingen gut ein paar Minuten, bis aus dem Haus Hilfe kam. „Ach je, die Bordsteinschwalben“, sagte mein Onkel nur leise.

»Das größte Tabu war, dass es überhaupt soziale Unterschiede zwischen Ost und West gab.«

In Budapest hatte ich bis dahin kaum Obdachlose auf der Straße gesehen. Und auch die Prostituierten sprachen die Männer nicht so offensichtlich auf der Straße an, dass es einem Kind hätte auffallen können. Darum war das Erlebnis auf dem Rastplatz für mich einer der stärksten Eindrücke während der Reise damals. Der sinnliche Anblick der gesellschaftlichen Unterschiede. Die Peripherie der Gesellschaft, die Abgehängten – und im übertragenen Sinne die Tabus – kamen einem einfach auf der Straße entgegen. In einer Großstadt im sozialistischen Teil der Welt wäre dies in dieser Form unvorstellbar gewesen.

Eine kernaussage von Jean-François Lyotard und Niklas Luhman lautet: Soziale Systeme bilden untereinander Netzwerke – und indem sie miteinander agieren, erweitern sie ständig ihr Wissen. Tabus und soziale Regeln helfen bei diesem Wissenserwerb. Als Regel gilt: Je größer und engmaschiger ein Netzwerk ist, desto mehr Austausch findet statt und umso reicher ist der kulturelle Nutzen. Die globale Welt ermöglicht es uns also, über das Dasein in kleinen Gemeinschaften hinauszutreten und unseren Erfahrungshorizont zu erweitern. Im Idealzustand der „One World“ liegt alles offen und unverschleiert da. Die Freude an der Aufgeschlossenheit, die Probleme einerseits und solidarisches Handeln andererseits gleichberechtig anspricht, ist für mich die wichtigste Funktion dieser einen Welt.

Wenn Wissenserwerb und Austausch den Kern sozialer Netzwerke bilden, dann sind die Aufhebung von Unterschieden und die Nivellierung asymmetrischer Verhältnisse eine logische Folge. Dabei geht es nicht darum, dass alles gleich wird und keine kulturellen Eigenheiten mehr bestehen sollen: Vielfalt ist im „One World“-Gedanken immanent. Aber es bedeutet, dass der Reichtum eines Teils des Netzes nicht dessen alleiniges Privileg sein darf. Die „eine Welt“ muss Antworten liefern, die den Menschen an der Peripherie Perspektiven bietet. Das Netz unserer Welt besitzt Knotenpunkte, an denen sich Wissen, Wohlstand und Entwicklung bündeln. Das ist auch in Ordnung so. Doch die Entfernung jedes Einzelnen vom nächsten Knotenpunkt darf nicht der Index für Rückständigkeit oder Vernachlässigung sein.

Mir haben meine Reisen in den 1980er-Jahren und mein späteres Leben – ich habe seitdem in zahlreichen Städten und Welten gelebt, vom Silicon Valley bis zum Kaukasus – gezeigt, dass es sich lohnt, dafür zu kämpfen, in einer besseren, gesünderen und nachhaltigeren Welt leben zu können. „Die Idee von der einen Welt“ ist immer eine Lösung: ein soziales Netz, das geografische Entfernungen aufhebt, Armut bekämpft, ein bewussteres Leben propagiert – und dabei kulturelle Eigenarten respektiert.

Die Autorin mit Kindern im Kaukasus, die noch ihre eigenen „One World“-Erlebnisse vor sich haben.